Dr. Esther Zysset im Porträt
"Hohe Sozialkompetenz und Interesse an den unterschiedlichsten Themen sind auch im juristischen Alltag von grossem Wert."
Dr. Esther Zysset, CIPP/E, Partnerin bei Public Sector Law, über ihren Weg zur Selbstständigkeit, die unerwarteten Vorteile der Corona-Pandemie für ihre Arbeit und die Herausforderungen der Digitalisierung im öffentlichen Sektor.
Liebe Esther, Du bist 2019 der Kanzlei «Public Sector Law» in der Schweiz als Partnerin beigetreten und berätst Klienten im Bereich des öffentlichen Rechts, insbesondere zu Fragen der Digitalisierung und des Datenschutzes. Wie bist Du zu diesem Schwerpunkt Deiner Beratung gekommen?
Die Frage, wie der Staat funktioniert, welche Tätigkeiten der staatlichen Regulierung bedürfen (und welche nicht, und weshalb, und welche Regulierung denn überhaupt …), also das Gebiet des öffentlichen Rechts, hat mich schon immer fasziniert. Die IT- und Datenschutzkomponente kommt von meiner früheren Tätigkeit als General Counsel bei SWITCH, einer Stiftung im IT- und Internetbereich. Kombiniert ergibt sich damit mein jetziger Schwerpunkt.
Du hast nach der Anwaltsprüfung zunächst in einer Wirtschaftskanzlei und später auch als Unternehmensjuristin gearbeitet. Welche Erfahrungen aus dieser Zeit waren für Dich mit Hinblick auf deine jetzige Selbstständigkeit wichtig?
Gelernt habe ich sicherlich vom Arbeitsethos meiner Kolleg*innen und im Umgang mit Klienten, wie sie in den grossen Kanzleien vermittelt werden. Im Firmenumfeld konnte ich dann meinen Blick erweitern – einerseits um das Verständnis gewisser Business-Zusammenhänge, andererseits um die (meist tolle, manchmal schwierige) Herausforderung, interdisziplinär zu kommunizieren und zu arbeiten.
Nachdem du bereits mehrere Jahre berufstätig warst, hast Du noch promoviert. Warum hast Du Dich damals hierfür entschieden?
Ich verspürte sehr grosse Lust, einem komplexen Thema richtig auf den Grund zu gehen. Dies war in meiner Tätigkeit als Unternehmensjuristin, wo die Antwort auf eine Rechtsfrage meist kurz und pragmatisch ausfallen musste, die Jahre davor etwas kurz gekommen. Zudem vermutete ich, dass sich als selbständige Rechtsanwältin (eine Option, die ich nebenbei aufgegleist habe) die Dissertation möglicherweise aus Marketing-Sicht als hilfreiche Qualifikation erweisen könnte.
Schon während der Promotion hast du als selbständige Anwältin gearbeitet. Welche Gründe haben Dich damals dazu bewegt, Dich selbstständig zu machen?
Ich glaube, der Entscheid zur Selbständigkeit an sich ergab sich aus der Summe der vorangehenden Entscheide im «trial-and-error»-Verfahren: Ich wusste, ich mag den Beruf sehr; namentlich die analytische Arbeit, die Bedürfnisse der Klientschaft zu verstehen oder den schriftlichen Ausdruck komplexer Sachverhalte. Gleichzeitig merkte ich, dass an den bisherigen Stationen jeweils etwas gefehlt hatte – gerade in den Anwaltskanzleien vermisste ich u.a. Frauenkarrieren, die als Vorbild hätten dienen können. Ich erhoffte mir dann, dass ich mir mit der Selbständigkeit eine gute Kombination nach meinen Vorstellungen würde zusammenzimmern können! Die Selbständigkeit habe ich über mehrere Jahre ab 2013 (zuerst unter meinem eigenen Namen) neben der Anstellung, danach neben Promotion und Kindern langsam aufgebaut.
Haben sich die Vorteile, die Du damals in der Selbstständigkeit gesucht hast, verwirklicht?
Ja, auch wenn das «Selber» und «Ständig» der Selbständigkeit mich manchmal sehr herausfordern (und die Einnahmen immer wieder etwas variieren), so macht mir das Ganze dennoch viel Spass! Toll finde ich u.a., dass ich mit der Selbständigkeit meine eigene persönliche Marke aufbauen und prägen kann.
In dieser Zeit haben Du und dein Mann eure Kinder bekommen – wie empfehlenswert ist die Selbstständigkeit für Eltern?
In meiner Wahrnehmung, sowohl in unserem Modell als auch bei befreundeten Familien, hängt der «Erfolg» der familiären Work-Life-Balance von verschiedensten Faktoren ab – auch ganz stark davon, wie flexibel die Arbeit des anderen Elternteils ist und wie stark sich dieser auch mit den Kindern engagiert. Mein Mann ist zwar nicht selbständig, er hat aber als Journalist ähnliche Herausforderungen wie ich (die Arbeit fällt nicht immer geordnet und zu Bürozeiten an). Wir haben uns von Anfang an vorgenommen, uns die Kinderbetreuung aufzuteilen und unsere Arbeitszeit je etwas zu reduzieren, und das hilft enorm. So haben wir beide etwas Flexibilität im Alltag (auch wenn zwischendurch am Abend oder am Wochenende gearbeitet werden muss).
Was empfindet Ihr als Eltern dabei als größte Herausforderung und wie geht Ihr hiermit um?
Als Paar haben wir regelmässig Situationen, in denen Terminkonflikte auftauchen (z.B. beide müssen am Mittwoch reisen, wenn die Kinder am Nachmittag schulfrei haben …), oder wenn ein Kind krank ist und wir dann verhandeln müssen, wer sich umorganisiert. Unser Versuch, ein egalitäres Modell zu leben, hilft ein stückweit, diese Klippen zu navigieren, weil so beide versuchen, flexibel zu sein.
Welche Eigenschaften braucht es in Deinen Augen, um sich als Anwältin oder Anwalt erfolgreich selbstständig zu machen?
Gute Frage. Ich denke, dass Folgendes hilft: Begeisterung für die Arbeit, gute Kommunikationsfähigkeiten, Selbstdisziplin, ein gutes Netzwerk und der Mut, sich zu exponieren und auf sich aufmerksam zu machen (Letzteres braucht für mich wie für viele Frauen etwas Überwindung, aber ich werde darin immer besser!). In fünf Jahren reden wir nochmals darüber …!
Gründerinnen gibt es noch immer weniger als Gründer. Macht sich dies beim Gründen bemerkbar und falls ja, wie?
Für mich macht es sich oftmals in der täglichen Arbeit bemerkbar, wenn je nach Organisation auf einem gewissen Hierarchielevel leider nach wie vor nur wenige Frauen anzutreffen sind.
Dein Klientenkreis stammt vorwiegend aus dem öffentlichen Sektor. Wie wirken sich dessen Besonderheiten auf die Business-Entwicklung für dich als Anwältin aus?
Ich weiss, dass die Klientschaft in den sozialen Medien noch etwas weniger präsent ist als der private Sektor, auch wenn hier natürlich gerade ein grosser Wandel stattfindet. So erreiche ich mein Zielpublikum auf LinkedIn nur bruchstückhaft und muss entsprechend nach wie vor stark auf andere Kanäle setzen (Vorträge, Empfehlungen, Mitarbeit in Gremien, etc.).
Kurz nachdem Ihr Eure Kanzlei gegründet hattet, kam die Corona-Pandemie und mit ihr wurden (internationale) Reisemöglichkeiten stark eingeschränkt – Du warst vorwiegend in Belgien und deine Klienten in der Schweiz. Wie bist du hiermit umgegangen?
Ja, mein Mann ist Journalist und arbeitet zurzeit als Korrespondent, weswegen wir momentan in Brüssel zuhause sind. Ich dachte zuerst, die Pandemie sei das Ende meines Businessmodells, das darauf basierte, dass ich regelmässig in die Schweiz reiste! Spannenderweise fanden jedoch Veränderungen auf beiden Seiten statt: ich begann, dort zu netzwerken und mich einzusetzen, wo ich konnte (LinkedIn, Webinare, Kanzleiblog, virtuelle Kaffeepausen mit interessanten Kontakten), gleichzeitig hat auch die Klientschaft begonnen, remote zu arbeiten und so war es dann bald in den Köpfen nicht mehr ein Problem, dass ich einen Auftrag aus dem Ausland erledige und die Besprechung per Videokonferenz stattfindet.
Nun hat die Corona-Pandemie in vielen Bereichen Nachholbedarf bei der Digitalisierung aufgedeckt. Welche Entwicklung hast Du durch die Corona-Pandemie im Bereich der Digitalisierung im öffentlichen Recht bzw. Verwaltung beobachten können?
Ich glaube, dass man auch im öffentlichen Sektor pandemiebedingt teilweise in einen «agilen» Arbeitsmodus gefunden hat – die Arbeit muss erledigt werden und alle sind im Homeoffice, also muss rasch eine Lösung gefunden werden. Die Herausforderung im öffentlichen Sektor wird sein, dies nach der Pandemie in einen «geordneten» aber dennoch einigermassen dynamischen digitalisierten Zustand zu überführen und nicht in alte Arbeitsweisen zurückzufallen.
Wie betrifft die Digitalisierung das öffentliche Recht konkret? Und vor welchen Herausforderungen wird das öffentliche Recht aufgrund der Digitalisierung gestellt?
Eine key challenge im öffentlichen Sektor ist sicherlich die Arbeitsweise, die sehr stark durch das «regulatorische Korsett» vorgegeben ist: Es liegen hierarchische Strukturen vor und die Arbeit wird durch verwaltungsinterne Aufsichtsorgane, Legislative und Judikative sowie die öffentliche Meinungsbildung (Medien) eingerahmt und kontrolliert. Zudem braucht man für Vieles eine gesetzliche Grundlage. Nun geht es darum, in diesem Kontext zu einer agileren Arbeitsweise zu finden, was gar nicht so einfach ist. Das öffentliche Recht selbst sieht sich damit konfrontiert, dass der herkömmliche Gesetzgebungsprozess zu langsam und meist zu schwerfällig ist, um die Digitalisierung rechtlich zu erfassen und die nötigen Spielräume zu bewahren. Entsprechend spannend sind hier neue Ansätze wie «Versuchsverordnungen» bzw. «regulatory sandboxes», mit denen das öffentliche Recht auch gewisse Experimente ermöglichen will.
Mit Blick auf junge Jurist*innen, die im Bereich Recht und Digitalisierung Karriere machen möchten, welches Knowhow und welche Interessen abseits des Jura-Fachwissens sind für Dich wichtig?
Es ist sicherlich zunehmend hilfreich für uns Jurist*innen und gerade in meinem Bereich, wenn man etwas breiter aufgestellt ist und Fähigkeiten wie Programmierkenntnisse oder Projektmanagement aufweist. Daneben bin ich aber der Ansicht, dass hohe Sozialkompetenz und Interesse an den unterschiedlichsten Themen auch im juristischen Alltag von grossem Wert sind.
Welche Juristin hat dich so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte und wieso?
Es gibt einige! Prof. Dr. Daniela Thurnherr, Professorin für öffentliches Recht an der Universität Basel, hat es auch mit Kindern akademisch ganz nach oben geschafft, oder Nancy Wayland, CEO der Sozialversicherungsanstalt (SVA) des Kantons Aargau, die eine klare strategische Ausrichtung mit viel Mut und Empathie umsetzt.
Vielen Dank für das spannende Interview!
Brüssel, 29. November 2021. Dr. Zysset hat das Interview schriftlich beantwortet. Die Fragen stellte Charlotte Rosenkranz.
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