Nadine Jürgensen im Porträt
"Was Familien brauchen, ist halt viel Flexibilität und Hilfe."
Nadine Jürgensen, Journalistin und Mit-Gründerin von WE/MEN, über ihren beruflichen Werdegang vom Jus-Studium zum Journalismus und aktuelle Herausforderungen für echte Gleichberechtigung.
Liebe Frau Jürgensen, Sie sind Journalistin, Moderatorin, Autorin und Mit-Gründerin der Plattform «WE/MEN». Was motiviert Sie, immer wieder neue Ansätze zu suchen und Projekte anzugehen?
Ehrlich gesagt, möchte ich etwas bewegen, verändern. Die Welt ein bisschen besser zurücklassen. Viele Journalist*innen sind ja Idealist*innen. Ich bin da keine Ausnahme. Ich habe mir als Juristin die Gleichberechtigung vorgenommen. Auch wenn es so scheint, als hätten wir das bereits erreicht, ist es leider nicht so.
Nach der Anwaltsprüfung sind Sie nicht wie so viele erst in eine Kanzlei oder ans Gericht gegangen, sondern direkt in den Journalismus gestartet. Wie kamen Sie dazu?
Ich stand schon mit elf beim Schweizer Fernsehen als Moderatorin der Kindersendung Kidz vor der Kamera – und so eiferte ich meinen Idolen, die ich damals in der Kantine traf, immer nach. Heute fasziniert es mich, die Komplexität der Welt zu reduzieren, Dinge zu übersetzen, gerade auch aus einem juristischen Sachverhalt. Der Journalismus öffnete mir sehr viele Türen. Ich durfte jeden Tag auf Augenhöhe mit neuen Menschen sprechen, lernen, zuhören. Aber auch einordnen, mir eine Meinung bilden und dazu stehen, gehört dazu.
Hat das Studium Sie auch handwerklich auf die Arbeit als Journalistin vorbereitet? Oder haben Sie bereits neben dem Studium praktische Erfahrungen hierfür gesammelt?
Als Teenager habe ich wie erwähnt fünf Jahre bei SRF moderiert, dann habe ich schon früh für den lokalen Anzeiger im Dorf geschrieben, für die Unizeitschrift und Praktika gemacht. Aber als ich bei der NZZ anfing, wurde ich trotzdem ins kalte Wasser geworfen. Da half nur schwimmen!
Wie war für Sie nach der Anwaltsprüfung die Umstellung von der juristischen Arbeit auf die einer Journalistin?
Mir gefiel, dass ich plötzlich die Quellenangaben in den Fussnoten weglassen konnte, obschon ich mir die Arbeitsweise, für jede Aussage eine Belegstelle zu haben, natürlich beibehalten habe. Auch fand ich die grössere Freiheit der schriftlichen Ausdrucksweise toll.
Was war die grössten Herausforderungen, inhaltlich wie persönlich, denen Sie als Journalistin begegnet sind bisher? Und wie sind Sie damit umgegangen?
Newsjournalismus war unglaublich aufregend aber auch sehr anstrengend. Gerade als junge Journalistin habe ich mit dem Kommentieren anfangs schwergetan: Wer war ich schon, meine Meinung hier kundzutun? Aber man wächst da rein. Natürlich muss man auch lernen, mit Kritik von aussen umzugehen, sich nicht beirren zu lassen. Ich habe damals viel von meinem ehemaligen Chef gelernt, der sich immer vor seine Redakteurinnen und Redaktoren gestellt hat. Das war Gold wert. Die Meinungsäusserungsfreiheit im Rahmen des rechtlich Zulässigen erachte ich als ein sehr hohes gesellschaftliches Gut.
Was würden Sie Jurist*innen raten, die ebenfalls einen journalistischen Berufszweig wählen möchten?
Schreiben, egal wo. Möglichst früh damit anfangen, egal ob es ein Blog, die Lokalzeitung oder gar ein Radio- oder TV-Sender ist.
Sie arbeiten heute als freischaffende Journalistin und Moderatorin, sind Mitglied der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen und Dozentin für Wirtschaftsrecht. Wie kamen Sie zu diesen vielfältigen und interessanten Aufgaben?
Das hat sich mit der Zeit einfach so ergeben, eins reihte sich zum anderen. Vieles kam dank meines Netzwerkes auf mich zu, dass ich mit Freude seit vielen Jahren pflege. Ich mag Menschen, und mit vielen treffe ich mich, ohne dabei Hintergedanken an irgendwelche beruflichen Vorteile zu haben. Gleichzeitig führe ich auch gerne Menschen zusammen, bei denen ich denke, das könnte passen. Networking ist ja so ein Modewort, aber ich glaube, ich lebe das einfach sehr natürlich, weil mich viele Leute einfach interessieren.
Was waren für Sie einprägsame Erlebnisse nach Ihrem Wechsel in die Selbstständigkeit?
Wie sich alles fügte und ich merkte, dass ich tatsächlich auf dem Markt bestehen kann. Anfangs hatte ich ein Neugeborenes und eine Dreijährige mit einer Betreuerin zu Hause. Ich habe zwischendurch gestillt oder meine Kinder geherzt und dann bin ich wieder verschwunden. Das war wunderschön, dass ich dieses Privileg hatte. Nun sind fast vier Jahre vergangen und ich konnte mir immer mehr Freiraum und Präsenz erarbeiten und habe sogar ein kleines externes Büro gemietet in der Stadt.
Was würden Sie dem- oder derjenigen raten, der oder die sich ebenfalls in diesem Bereich selbstständig machen möchte?
Einfach machen! Man muss irgendwo anfangen, bei mir war es eine Website mit einem Kontaktformular und einem Foto. Alles andere ergibt sich. Vielleicht ist es noch gut, eine Vision zu haben, sie muss nicht mal scharf gezeichnet sein. Aber so eine vage Vorstellung, wie es sich anfühlen sollte, wo man hinwill. Und dann diesem Gefühl folgen.
Sie sind auch Mutter zweier Kinder. Wie haben Sie und Ihr Partner die Kinderbetreuung und Ihre beruflichen Laufbahnen miteinander organisiert?
Ach, immer wieder neu! Es ist ja in der Schweiz ein leidiges Thema. Wir hatten schon alle Varianten: Krippe, Tagesmutter, Nanny – momentan ist es wieder Krippe für die Kleine und Hort nach der Schule für die Grosse. Im Sommer kommt die Kleine in den Kindergarten, dann ändert sich wieder alles. Ich muss aber sagen, unsere Nanny war während drei Jahren unserer Familie eine unglaubliche Stütze und durfte auch ihre mittlerweile zweijährige Tochter zu uns mitbringen. Während des ersten Lockdowns der Corona-Pandemie waren unsere Kinder auch viel bei ihr zu Hause. Was Familien brauchen, ist halt viel Flexibilität und Hilfe, auch wenn die Kinder krank sind. Unserer Nanny habe ich sehr viel zu verdanken.
Wie sieht ein typischer Arbeitsalltag bei Ihnen aus?
Den gibt es nicht! Ich arbeite neben meinen beiden Kindern immer dann, wenn es geht oder eben muss. Als Selbständige sind die Aufträge ja auch immer anders, da muss ich flexibel bleiben. Aber es kann schon vorkommen, dass ich am Wochenende oder abends etwas abarbeite, aber das mache ich dann ehrlich gesagt auch gerne. Was ich jetzt tun darf, mache ich mit grosser Freude und ich freue mich noch auf hoffentlich sehr viele neue Herausforderungen, besonders wenn die Kinder dann etwas grösser sind.
Wie sehen Sie die Chancen für eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen, die als angestellte Journalistinnen arbeiten?
Es braucht eine verständnisvolle Chefin oder einen Chef, Homeoffice und idealerweise lässt man im Newsjournalismus vielleicht die ganz heissen Topics den Kollegen. Wer eher Hintergrundartikel schreibt, sollte es schon vereinbaren können. Es ist sehr individuell. Die Medien sind sehr oft noch sehr traditionell geprägt, die meisten Chefs sind männlich – ich fordere hier schon lange ein Umdenken, damit nicht alle Frauen ab Mitte dreissig von der Bildoberfläche verschwinden. Aber das ist in fast allen Branchen ein Problem. Frauen sind zu wenig sichtbar. Das müssen wir ändern.
In einem Beitrag im Oktober 2017 schrieben Sie, dass «das traditionelle Modell hierzulande keine Wahl ist, sondern ein Umstand, dem man sich als Eltern beugen muss.» Sehen Sie dies nach wie vor so?
Ja, leider hat sich da gar nichts verbessert. Es fehlt noch immer eine gleichberechtige Elternzeit, damit das Risiko am Arbeitsplatz auszufallen, nicht nur die Mütter betrifft. Die zwei Wochen Vaterschaftsurlaub sind eigentlich ein Witz. Die Rollenverteilung wird nach der Geburt trotzdem staatlich zugewiesen, nach zwei Wochen fangen die Herausforderungen ja erst an. Dann fehlt die Individualbesteuerung, damit die Steuerstrafe auf das niedrigere Zweiteinkommen wegfällt. Ich begrüsse die Initiative sehr, die nun lanciert wurde (Anm. d. Red.: die Steuergerechtigkeit Volksinitiative). Es braucht zudem überall Tagesschulen, günstigere und qualitativ hochwertige Kitas. Und es braucht mehr Teilzeitstellen, Jobsharing und flexible Arbeitszeiten, besonders auch für die Männer.
Sie engagieren sich auch stark für Gleichberechtigung und haben 2020 die Plattform «WE/MEN: Männer* für mehr Frauen* im öffentlichen Diskurs» mitgegründet. Was war für Sie der Auslöser für diese Idee?
Als Moderatorin hatte ich irgendwann genug von diesen All-male Panels. Immer war ich die einzige Frau – auch bei Themen, welche die Erlebniswelt von Frauen sehr betreffen. Ich schrieb 2017 dazu eine Kolumne im Schweizer Monat und forderte eine Männerbewegung wie die Vorbilder aus dem Norden, etwa #tackanej, was so viel wie «Nein, Danke» bedeutet. Mit Pirmin Meyer fand schon ein Jahr davor ein Austausch zu diesem Thema statt und als sie WE/MEN ins Leben riefen und mich anfangs baten, mit ihnen die Medienstrategie zu entwickeln, fragten sie mich an, ob ich nicht gleich mitmachen wollte. Seither sind wir eine gemeinsame Bewegung von Männern und Frauen für mehr Sichtbarkeit von Frauen in der Öffentlichkeit.
Wie kann man aus Ihrer Sicht den öffentlichen Diskurs gemeinsam so gestalten, dass Männer und Frauen selbstverständlich gleichberechtigt repräsentiert sind?
Wir versuchen ohne Shaming und Blaming darauf auf unseren Social Media Kanälen aufmerksam zu machen, wie veraltet beispielsweise so reine Männerpodien sind. Sandro Brotz ist auch in unserer Community und es ist wichtig, dass grosse öffentliche Veranstaltungen oder politische TV-Sendungen wie die Arena hier Vorbilder sind. Zudem haben wir eine Testimonial-Kampagne, bei der sich unsere Community zu unseren Grundätzen bekennt. Wir sind auch im Austausch mit sheknows.ch, der Plattform für weibliche Expertinnen für jedes Thema. Damit erübrigt sich auch die Ausrede, man habe keine Frau gefunden. Gleichzeitig erarbeiten wird mit WE/MEN gerade Unterlagen für Workshops mit Unternehmen, damit wir ihnen aufzeigen können, wie man intern die Kultur verändern kann.
Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte und wieso?
Ich würde gerne meine ehemalige Kollegin bei der NZZ, Claudia Schoch, nominieren. Sie war die erste Frau, die einen Leitartikel unter ihrem eigenen und nicht einem männlichen Decknamen in dieser Zeitung verfasst hat, stellen sie sich das vor. Claudia hat mich als junge Journalistin sehr unterstützt. Sie ist eine ausgezeichnete Juristin und arbeitet mittlerweile als Medienrechtsanwältin.
Vielen Dank für das Gespräch und die Zeit, die Sie sich dafür genommen haben!
Zürich, 11. April 2021. Nadine Jürgensen hat das Interview schriftlich beantwortet. Die Fragen stellte Charlotte Rosenkranz.
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