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Dr. Raphaela Zürcher Kramer im Porträt

"Wir müssen eine dicke Haut haben, ohne dabei die Sensibilität und Empathie für den Fall zu verlieren."

Dr. Raphaela Zürcher Kramer, Präsidentin der KESB Uster, über ihren Weg zur KESB, die Aufgaben und Herausforderungen im KESB-Alltag, die Geschlechterverteilung in ihrem beruflichen Umfeld sowie die Möglichkeiten zur Vereinbarung von Familie und Beruf.

Frau Zürcher Kramer, Sie führen die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Uster bereits seit vielen Jahren mit sicherer Hand und haben bereits nach ihrem Studienabschluss eine Dissertation über Kindesentführung und Kinderrechte geschrieben. Wussten Sie schon immer, dass die Arbeit bei der KESB Uster ihre Berufung ist?

Nein, und das aus zwei Gründen: Erstens gibt es die KESB nämlich erst seit zehn Jahren und davor war ich acht Jahre bei der Vormundschaftsbehörde beschäftigt. Zweitens gehöre ich nicht zu den Personen, die bereits seit dem Kindergarten wussten, was sie einmal werden möchten. Es war mein Dissertationsthema, das mich letztendlich näher zu meinem Job geführt hat. Mein Doktorvater schlug mir dieses Thema damals vor; es war auch zu diesem Zeitpunkt besonders relevant aufgrund der medialen Aktualität des Haager Kindesentführungsübereinkommens (HKÜ).

Später erhielt ich dank eines Kollegen, der bei einer Vormundschaftsbehörde arbeitete, die Möglichkeit, ein Praktikum zu absolvieren und einen Einblick in diesen Teil des Zivilgesetzbuches (ZGB) und in dieses spezifische Berufsfeld zu erhalten. Dadurch konnte ich Freude an der Thematik entwickeln und mir besser vorstellen, wie es ist, in diesem Bereich zu arbeiten. Als dann eine Stelle bei der Vormundschaftsbehörde in Uster frei wurde, konnte ich dort sofort anfangen.
 

Viele würden mich wohl als Urgestein in unserem Beruf bezeichnen (lacht). Die langjährige Erfahrung ist äusserst wertvoll, da ich die verschiedenen «Stakeholders» wie etwa das Kinder- und Jugendhilfezentrum, die Sozialabteilungen der umliegenden Gemeinden oder die Polizeibehörden persönlich kenne. Dieser persönliche Bezug ist für mich von grosser Bedeutung.

Seit der Reform gibt es die KESB nun seit zehn Jahren. Was hat sich durch die Umstrukturierung verändert? 

Früher wurden Entscheidungen von Laien getroffen, die bspw. Architekten, Bankerinnen oder Staatsanwälte von Beruf waren. Mit der Reform wurde die Vormundschaftsbehörde als «Laiengericht» abgeschafft und professionalisiert. Das war notwendig, da wir als Behörde in das Leben von Menschen eingreifen, was hohe Professionalität erfordert. Die Reform war somit ein enormer Gewinn für unseren Beruf.

Zudem wurden die Erwachsenenschutzmassnahmen revidiert. Dadurch ist nun gesetzlich genau vorgeschrieben, dass nur angeordnet werden soll, was tatsächlich notwendig ist. Obwohl dies zuvor bereits galt, wurde es durch die gesetzliche Anordnung noch weiter verfeinert. Heute sind wir in der Lage für die betroffene Person eine für ihre ganz individuelle Situation massgeschneiderte Lösung zu schaffen. Es wird mithin nur so weit eingegriffen, als es der Person hilft und ihren Schwächezustand oder ihre Gefährdung abmildert. Dadurch dass die Massnahmen nur noch als Beistandschaft beschrieben werden und nicht mehr als «Vormundschaft» und «Beiratschaft» wurde eine Stigmatisierung abgeschafft, die für die betroffene Person bisweilen belastend war. Wichtig war auch die Reform der fürsorgerischen Unterbringung. Früher hiess dieses Institut fürsorgerische Freiheitsentziehung. Heute spricht man von Unterbringung. Die Reglementierung wurde stark ausgeführt und geregelt, so dass dieser schwerwiegende Eingriff in die persönliche Bewegungsfreiheit der betroffenen Person optimal und modern reglementiert ist und für Rechtssicherheit sorgt.

 

Wie haben Sie den Wechsel vom wissenschaftlichen Arbeiten an der Universität zur praktischen Tätigkeit für die Vormundschaftsbehörde Uster wahrgenommen?

 

Ich arbeite persönlich lieber praktisch. Mein Motto ist «learning by doing» und nicht im «stille Chämmerli» etwas ausbrüten. Zudem fehlt mir aufgrund meines Arbeitspensums die Zeit, um selbstständig tiefgehende Recherchen durchzuführen, obwohl ich es sehr interessant finde, mich in spezifische Rechtsfragen zu vertiefen. Natürlich nehme ich mir die Zeit, das Wesentliche zu recherchieren. Recherchearbeit heisst für mich heute sehr oft, unter Zeitdruck ins Schwarze zu treffen.

Reicht meine Zeit nicht aus, haben wir Fachteams, die sich für spezielle Fragen besonders gut eignen. Eines dieser Teams spezialisiert sich zum Beispiel ausschliesslich auf KESB-Verfahren.

Sie sind mittlerweile seit zehn Jahren Präsidentin der KESB Uster. Wodurch zeichnen Sie sich als eine gute Vorgesetzte aus?

Das A und O ist das Vertrauen in meine Mitarbeiter:innen zu haben, wobei auch die Wertschätzung eine zentrale Rolle spielt. Als Vorgesetzte sollte man die Menschen wirklich mögen, ohne dabei aufgesetzt zu wirken. Für mich ist Authentizität eine wichtige Eigenschaft als gute Vorgesetzte. Ich muss (fast) alles können, was meine Mitarbeiter:innen können sollten. Ich muss das Arbeitsumfeld kennen und die Materie. Ich muss selbst eine Fachperson sein, sonst kann ich kein (Fach)Team führen – das ist jedenfalls meine Ansicht. Es ist entscheidend, effektiv auf die einzelnen Bedürfnisse der Mitarbeitenden einzugehen. Daher stehe ich stets für Gespräche zur Verfügung und verfolge eine «offene Tür»-Politik. Ich beschreibe das immer gerne so: «Ich ziehe morgens auch meine Gummistiefel an und gehe raus in den Stall, um mitanzupacken.» Ich bin mir nicht zu schade, den gleichen oder den härteren Job als meine Mitarbeiter:innen zu erledigen.

Last but not least muss ich unsere Abläufe stets überprüfen können, um ständig eine optimale Qualitätssicherung unserer Behörde durchzuführen.

Aus welchen Aufgaben setzt sich Ihr Alltag als Präsidentin der KESB Uster zusammen? Wo sind Sie überall involviert?

Im Vordergrund steht bei uns klar das operative Geschäft: Als KESB Uster haben wir jährlich 2’500 Verfahren zu bewältigen und das mit einem kleinen Team von nur 18 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Im Bereich der Supervision bin ich als Mitglied einer Kollegialbehörde tätig. Das nimmt den grössten Teil meines Arbeitsalltags ein. Die restlichen 30-40% meiner Arbeit bestehen darin, dass ich als Präsidentin der KESB das Budget vertrete und als Bindeglied zur Stadtverwaltung und bspw. zur Berufsbeistandschaft oder zu Kindesschutzorganen, aber auch zu den Anschlussgemeinden der KESB Uster fungiere.

Vor zehn Jahren schlossen sich die 13 KESB des Kantons Zürich in der KESB-Präsidienvereinigung zusammen, um gemeinsame Haltungen und Richtlinien zu erarbeiten und eine Austauschplattform zu haben. In jährlich vier Versammlungen tauschen wir uns über übergeordnete Themen aus und entwickeln gemeinsame Haltungen oder wir verfassen Vernehmlassungen zu neuen Gesetzeserlassen und wirken in diversen Fachgremien in der ganzen Schweiz mit.

 

Ich bin auch in der kantonalen Kindesschutzkommission und vertrete unsere Interessen dort, um sicherzustellen, dass unsere Partner, mit welchen wir zusammenarbeiten, gut informiert sind über unsere Kompetenzbereiche und damit wir unsererseits über die aktuellen Brennpunkte in der Gesellschaft auf dem Laufenden sind.

Können Sie beschreiben, wie ein Verfahren bei der KESB vom Zeitpunkt des Meldungseingangs inhaltlich und zeitlich abläuft?

Zeitlich kann ein Verfahren eine Stunde, einen Tag oder ein Jahr dauern. Zuerst wird in der Kanzlei zusammen mit dem Rechtsdienst die Zuständigkeit der KESB Uster geprüft, d.h. ob die prozessualen Voraussetzungen erfüllt sind.
 

In jedem Verfahren gibt es vier Phasen: Zuerst befinden wir uns in der Start-, danach in der Abklärungs- und Auswertungsphase. Ganz zum Schluss folgt die Entscheidungsphase.

In der Startphase geht es darum, neue Meldungen oder Anträge zu prüfen. Das erfolgt auf Behördenebene. Das Verfahren wird dann im Team einer Referenzperson zur Bearbeitung zugeteilt, wobei immer ein Behördenmitglied im Hintergrund zuständig ist. Die Referenzperson im Verfahren ist jeweils eine Mitarbeitende des Fachteams der KESB mit entweder sozialarbeiterischem oder juristischem Hintergrund. Je nach Verfahren und je nach Auslastung des Teams werden die Referenzpersonen von der Behörde bestimmt.

In der Abklärungsphase geht es insbesondere darum Gespräche mit den betroffenen Personen sowie der Meldestelle durchzuführen. Es wird in der Regel direkt Kontakt zu den betroffenen Personen resp. zur Familie aufgenommen, um sie über die Meldung zu informieren. Die Betroffenen werden von uns über die Verfahrensgrundsätze aufgeklärt und es wird ihnen aufgezeigt, was im Verfahren auf sie zukommen wird auch punkto Kosten. Die Verfahrensbeteiligten erhalten immer die Möglichkeit, sich einzubringen und haben ein Akteneinsichtsrecht. Mit anderen Worten: Die Verfahrensrechte werden von der KESB Uster immer gewährleistet.

In der dritten Phase, der Auswertungsphase, überprüfen wir die bereits vorliegenden Ergebnisse und kontrollieren, ob allenfalls noch Stellungnahmen oder Amtsberichte der Gemeinde benötigt werden.

Auch während der Auswertungsphase ist die Wahrung des rechtlichen Gehörs ein wichtiger Aspekt. Dafür führen wir Gespräche mit den Betroffenen. Sie erhalten die Möglichkeit, sich im Verfahren aktiv einzubringen. Oftmals sind Verfahrensbeteiligte rechtlich vertreten. Manchmal stellt die KESB ihnen eine Rechtsvertretung zur Seite, wenn dies für nötig und sinnvoll erachtet wird. Regelmässig bestellen wir (Kultur)Dolmetscherdienste. Es ist äussert wichtig, dass die Betroffenen unsere Erklärungen und Ausführungen richtig verstehen und sich entsprechend im Verfahren einbringen können.

In der letzten Phase, der Entscheidungsphase, verfasst die Referenzperson den Entscheid, der dann in der Kollegialbehörde beraten wird. Pro Woche bearbeiten wir im Schnitt 25 Entscheide. In der Regel wird der Entscheid den Betroffenen schriftlich eröffnet, wobei auch die Möglichkeit einer mündlichen Eröffnung besteht. Das ist vor allem dann relevant, wenn die Betroffenen die Sprache nicht beherrschen und die Gefahr besteht, dass sie den schriftlichen Entscheid nicht verstehen. In solchen Fällen ziehen wir eine Übersetzerin bei.

Die Verfahren betreffen in etwas mehr als der Hälfte Kindesschutzfälle und in etwas weniger als der Hälfte Erwachsenenschutzfälle. Schlussendlich beträgt das Verhältnis Erwachsenenschutzmassnahmen zu Kindesschutzmassnahmen aber 60:40. Wir ordnen somit immer noch mehr Erwachsenenschutzmassnahmen an als Kindesschutzmassnahmen.

Inwiefern ist die Kostenverlegung auf die Kantone vorteilhaft?

Seit dem 1. Januar 2022 übernimmt der Kanton Zürich die Kosten für die sogenannten ergänzende Hilfe zur Erziehung oder für Platzierungskosten. Die Eltern erscheinen gegenüber dem Gemeinwesen nicht mehr als Schuldner. Was bis dahin zu Diskussionen mit den Gemeinden führte, die teilweise sehr hohe Kosten für Kindesschutzmassnahmen tragen resp. bevorschussen mussten, ist heute kein Thema mehr. Auch für betroffene Eltern ist dies eine Entlastung zumindest in finanzieller Hinsicht. Der Kanton verrechnet heute den Gemeinden einen Pauschalbetrag zur indirekten Mitfinanzierung an die Kosten von Kindesschutzmassnahmen.

Früher hatten wir Fälle, in denen eine sozialpädagogische Familienbegleitung sinnvoll gewesen wäre; aber eine solche Begleitung kostet etwa CHF 140 pro Stunde. Sobald wir im Verfahren die Kosten angesprochen haben, waren die Betroffenen oft nicht mehr gewillt, diese Familienbegleitung zu akzeptieren bzw. zu bezahlen. Natürlich gibt es subsidiär Sozialhilfe, aber dadurch entsteht eine Abhängigkeit zu den Gemeinden.

Mit der Gesetzesrevision ist auch ein Diskussionspunkt der Gemeinden gegenüber der KESB entfallen. Es hat also eine Entlastung auf mehreren Ebenen stattgefunden.

Sie übernehmen als Präsidentin auch Aufsichtsfunktionen. Sind mit dieser Aufsichtsfunktion auch Vetorechte oder Interventionen bei laufenden Verfahren verbunden?

Das Supervisionssystem, das wir nutzen, sieht vor, dass bei jedem Verfahren ein Behördenmitglied im Hintergrund mitwirkt. Das Verfahren läuft zwar nicht direkt über unseren Tisch, aber wir werden teilweise bei Klientengesprächen hinzugezogen und es finden regelmässige Besprechungen im Verfahren statt. Möglich ist auch die Eingabe einer Entscheidung vorfrageweise an die Gesamtbehörde, so dass das Dreiergremium über die Vorfrage entscheiden kann. Unser Hauptziel ist es sicherzustellen, dass die Referenzperson, die das Verfahren leitet, eine Ansprechperson auf Behördenebene hat. Daneben erfolgt so eine permanente Qualitätssicherung unserer Arbeit. Die Behörde trägt schlussendlich die Verantwortung für die Entscheidung, so dass es schon nur aus diesem Grund sinnvoll ist, im Hintergrund ein Stück weit die Zügel in der Hand zu behalten. 

Wie bereits erwähnt, sind wir alle für die Verteilung der Fälle verantwortlich, was aber nicht automatisch bedeutet, dass ich bei allen Fällen, die ich selbst verteile, auch als Supervisionsperson zuständig bin.

Das heisst aber wiederum nicht, dass wir nur in Fällen intervenieren können, für die wir offiziell zuständig sind. Wenn wir merken, dass etwas nicht gut läuft oder eine beteiligte Person sich meldet und beschwert, können wir Rücksprache mit der Referenzperson halten und die Angelegenheit klären und möglicherweise auch den Kurs korrigieren.

Somit ja, wir haben eine Menge Interventionsrechte im Verfahren. Vetorechte im engeren Sinn kennen wir nicht. Jedes Behördenmitglied kann aber in der Entscheidung sein Veto einreichen. Es entscheidet dann die Mehrheit und der Stichentscheid liegt bei der Präsidentin.

Ist es trotz eines Teilzeitpensums möglich bei der KESB Uster Karriere zu machen? Wie erleichtert die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf?

Ich persönlich finde den Begriff «Karriere» etwas unpassend, denn Karriere im eigentlichen Sinn kann man bei uns nicht machen. Es ist aber möglich, die Position als Behördenmitglied oder Ersatzbehördenmitglied anzustreben.

Betrachte ich es von meiner Seite aus, so darf ich für das Amt als Präsidentin der KESB gemäss Gesetz nicht weniger als 80% arbeiten. Ein Ersatzbehördenmitglied darf gemäss Gesetz kein tieferes Arbeitspensum als 50% haben.

Ein Vollzeitpensum wird häufig aufgrund der Begeisterung für die Arbeit und zum Sammeln vieler Erfahrungen gewählt. Dies lässt sich insbesondere bei jüngeren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beobachten. Denn ein höheres Arbeitspensum bedeutet auch, dass man länger und vertiefter in einem Verfahren involviert ist. Das wiederum bedeutet aber nicht, dass Mitarbeiter:innen der KESB in einem tieferen Pensum nur die uninteressanten Verfahren bearbeiten können. Ist ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin erfahren, so kann sie auch in einem Pensum von 50 bis 60% für ein grösseres Kindesschutzverfahren verantwortlich sein.

Zu einer Pensumsreduktion kommt es häufig bei Familienzuwachs (mithin auch bei den Vätern!) oder wenn man seinen privaten Interessen mehr Zuwendung schenken möchte und auf den Verdienst nicht zwingend angewiesen ist zur Finanzierung des Lebens.

 

Die Geschlechterverteilung bei der KESB Uster zeigt eine höhere Präsenz von Frauen. Welche Faktoren führen Ihrer Meinung nach dazu, dass sich mehr Frauen als Männer für eine Tätigkeit bei der KESB entscheiden?
Um ehrlich zu sein, habe ich keine Antwort darauf. Ich vermute, dass ein Beruf, der viele soziale Komponenten hat, attraktiver für Frauen als für Männer ist. Das gleiche Problem haben bekanntlich auch die Kinder- und Jugendhilfezentren und die Väter- und Mütterberatungsstellen.
Männer werden rar. Vor 20 Jahren gab es noch viel mehr Männer auf unserem Gebiet, insbesondere viele Vormundschaftssekretäre. Möglicherweise ziehen Männer heutzutage andere Berufe vor. Das ist schade, da sich Männer in manchen Fällen besser für die Verfahren eignen als Frauen. Es kann zum Beispiel vorteilhafter sein, einen Mann in die Verfahrensleitung einzusetzen, wenn Personen von Kulturen daran beteiligt sind, in welchen Frauen – insbesondere junge Frauen – wenig zu sagen haben und nicht respektiert werden. Ein männliches Mitglied in einem Verfahren kann auch von Vorteil sein, wenn wir feststellen, dass bei der im Verfahren involvierten Familie der Mann gestärkt werden muss.
Seit einigen Jahren und aus unerklärlichen Gründen haben wir (wie auch die Gerichte) grosse Mühe, Juristinnen und Juristen für eine Stelle bei der KESB zu rekrutieren. Offenbar ist heute die Tätigkeit in einer Anwaltskanzlei attraktiver. Das finden wir sehr schade, da unsere Arbeit, wenn man sie einmal kennengelernt hat, sehr begeistern kann. Es gab noch keine Auditorin, die nicht hell begeistert war von unserer Arbeit und häufig in der Branche bleibt, sobald das Anwaltspatent einmal erworben wurde.
Die KESB Uster beschäftigt zum Glück noch einige Männer im Fachteam. Eine ausgewogene Mischung aus beiden Geschlechtern finde ich im Allgemeinen (für alle Berufszweige im Übrigen) sehr gut. In unserem Team bewährt es sich insbesondere aus den oben erwähnten Gründen: Wir können noch besser auf den Fall eingehen.
Muss frau und man für die juristische Betreuung der Fälle bei der KESB eine «dicke Haut» haben? Falls ja, spielt es für Sie eine Rolle, ob die Fälle Kinder, Erwachsene oder Seniorinnen und Senioren betreffen?
Ja, wir müssen eine dicke Haut haben, ohne dabei die Sensibilität und Empathie für den Fall zu verlieren. Eine Juristin bei uns hat andere Herausforderungen als eine im Rechtsdienst in einer Bank. Wir werden mit starken Emotionen konfrontiert, egal in welchem Alter die Betroffenen sind. Bei Kindern kommen Emotionen häufiger vor, weil da ein ganzes Familiensystem betroffen ist. Seniorinnen und Senioren haben dagegen oft Angst, ihre persönliche Freiheit zu verlieren und «bevormundet» zu werden oder deren Kinder können nicht mit der Situation der betagten Eltern umgehen. Die Mitarbeiter:innen einer KESB müssen eine gute psychische Stabilität mitbringen, die Fähigkeit haben, sich abzugrenzen, und vor allem müssen sie ihre eigene Rolle kennen und bei ihr bleiben, egal was im Gespräch mit Klientinnen und Klienten kommt. Das ist manchmal sehr schwierig und vielfach nicht machbar. Möglicherweise werden wir in einem Verfahren übel beschimpft, in unserer Ehre verletzt, gar bedroht, oder es werden unmögliche Erwartungen an uns gestellt, worauf Klientinnen und Klienten wütend werden, wenn wir ihre Erwartungen nicht erfüllen können. Um das ausbalancieren zu können, benötigen wir also auch eine dicke Haut. Meiner Meinung nach ist aber ein solides Team im Hintergrund fast noch wichtiger als die eigenen Instrumente, um im Arbeitsalltag zurecht zu kommen. Die Möglichkeit, den eigenen Emotionen im Gespräch mit seiner Supervisorin freien Lauf zu lassen oder mit einem Kollegen oder einer Kollegin bei einer Tasse Kaffee über die Situation zu sprechen, sind für mich zentrale Dinge, die ich in meiner KESB zur Verfügung stellen will. Ein «Danke» höre ich von unserer Klientel höchst selten. Es ist anstrengend, aber auch sehr spannend. Man weiss nie, was einem an einem Arbeitstag erwartet.
Trotz der Anstrengung, die mein Beruf mit sich bringt, erfüllt er mich zutiefst. Meine Arbeit ist eine wichtige Leistung an die Gesellschaft. Es mag nicht immer als direkte Hilfe von den Beteiligten empfunden werden; aber oft geht es um unseren Input in Bezug auf Erziehung und Kommunikation. Wir zeigen Möglichkeiten auf, wie Seniorinnen und Senioren unterstützt werden können, bspw. durch einen Treuhanddienst. Gleichzeitig schützen wir Angehörige, wenn wir aufgrund eines ärztlichen Entscheids jemanden unterbringen müssen.
Ich sehe, dass es in meinem Berufsfeld grosse Armut und offensichtliche Bedürftigkeit gibt. Die Tatsache, dass ich Menschen in solchen Situationen unterstützen kann, motiviert mich. Ich empfinde es als eine bereichernde Erfahrung, die Menschenwürde auf diese Art und Weise erhalten zu können.

Frustriert es Sie, dass die KESB in den Medien oft schlecht wegkommt? Und sehen Sie Möglichkeiten, wie man verhindern kann, dass man von medialer Berichterstattung oder einzelnen Personen in einem KESB-Verfahren nicht zu stark beeinflusst wird?

 

Auf diese Frage stelle ich jeweils gerne die Gegenfrage: «Wann haben Sie das letzte Mal einen negativen Artikel über die KESB gelesen?» Oft können sich die Personen nicht mehr konkret erinnern. Wir werden nämlich heutzutage in den Medien nicht mehr so schlecht dargestellt wie in den Anfangsjahren der neuen Behörde. Dennoch wird unsere Arbeit immer wieder kritisch betrachtet, da wir in das Leben von Menschen eingreifen. Und das ist auch gut so, obschon wir jährlich vom Gemeindeamt des Kantons Zürich visitiert werden, also unsere Tätigkeit regelmässig überprüft wird, und obschon unsere Entscheide materiell von einem Gericht überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden können. Letzthin aber stellte ein Journalist doch fest, dass wir immer wieder eine undankbare Rolle einnehmen müssen, indem wir als staatliches Organ über Dinge entscheiden, über die eigentlich die Eltern entscheiden sollten, sie sich aber aufgrund ihres persönlichen Rosenkriegs nicht einigen können. Diese Darstellung unter einem richtigen Licht freute mich sehr. Wir erledigen lediglich den Job, den uns der Gesetzgeber auferlegt hat.

 

Grosse Aufmerksamkeit erlangen wir vor allem, wenn Kinder fremdplatziert werden müssen, was starke Emotionen hervorruft. Doch setzt man dies in Relation zur Vielzahl von Fällen, mit denen wir tagtäglich zu tun haben, kommt es zu weniger als zehn Platzierungen pro Jahr; aber Entscheide fällen wir jährlich gegen die 2000.

Interessanterweise werden die Medien von den Verfahrensbeteiligten oft als Drohmittel verwendet. Ich begegne dem gelassen. Nicht jeder Fall, der bei uns landet und für die betroffene Person ganz schlimm sein mag, ist für Medien interessant. Das Problem dabei ist, dass wir als KESB an die Schweigepflicht gebunden sind. Geht eine Person an die Medien, kann sie alles sagen, was sie will –  auch Unwahrheiten –, während wir nicht befugt sind, uns zu äussern. Vor allem nicht, wenn es ein laufendes Verfahren betrifft. Jedoch haben wir uns auch schon von der Schweigepflicht entbinden lassen.

Welche Qualitäten und Fähigkeiten sollten junge Juristinnen und Juristen Ihrer Meinung nach mitbringen, um sich in diesem Berufsfeld zu entfalten und Fuss zu fassen?

 

Eine solide juristische Ausbildung ist Voraussetzung. Das bedeutet ein abgeschlossenes Masterstudium in Rechtswissenschaften. Zusätzlich sollte man die Motivation, Neugier und die Bereitschaft mitbringen, in diese Berufssparte einzutauchen.

Die Offenheit und Lust zum Recherchieren sind ebenfalls von grosser Bedeutung. Darüber hinaus sollte man sich nicht einschüchtern lassen und viel Mut aufbringen, da die Arbeit bei der KESB anspruchsvoll sein kann. Auf den Alltag heruntergebrochen bedeutet das, dass das selbständige Arbeiten reizvoll ist und dass man die eigene Kreativität in die Verfahren einbringen kann, ohne dabei Konditionen zu sprengen oder an grosse Formalitäten gebunden zu sein. Diese Freiheiten sind das, was den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Freude bereitet.

Ein tiefes Verständnis für Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, ist unerlässlich. Es ist wichtig, Mitgefühl und Empathie für die individuelle Situation der Betroffenen zu haben. Die grundlegende Motivation ist es, einen wichtigen Beitrag an die Gesellschaft zu leisten.

Zudem muss einem bewusst sein, dass man bei der KESB keine klassische Karriere machen kann. Die Arbeit bei der KESB ist eine andere Art von Tätigkeit, die sich nicht durch traditionelle Karrierestufen auszeichnet. Aber wie schon erwähnt, kann die Position als Behördenmitglied oder Ersatzbehördenmitglied durchaus angestrebt werden.

Auch erwähnenswert ist, dass es bei uns spannende Tätigkeiten für Nicht-Juristinnen und Nicht-Juristen gibt. Im Bereich der Psychologie bieten wir ein einjähriges Praktikum für Assistenzpsychologinen oder Assistenzpsychologen an. Begleitet werden sie jeweils von Thomas Best, Vizepräsident der KESB, und Psychologe. Auch Sozialarbeiter:innen, die während des Studiums ein Praktikumsjahr absolvieren müssen, können jeweils für sechs Monate im Fachteam der KESB arbeiten. Sie werden durch zwei zertifizierte Personen im Team eng begleitet. Diese Arbeit ist zwar weniger selbständig, jedoch finden wir es von der KESB enorm wichtig, dass die angehenden Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ebenfalls bei uns reinschauen dürfen. Das Ergebnis ist, dass viele Studienabgängerinnen und -abgänger bei einer KESB arbeiten.

Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte und wieso?

 

Rechtsanwältin Katja Lerch aus Bubikon. Man muss sie einfach in einem Kindesschutzverfahren als Vertreterin erlebt haben. Sie ist super engagiert und ich finde sie eine top Juristin, da sie sich voll einbringt und jeden Hund ausgräbt, egal wie tief er vergraben wurde.

Vielen Dank für das Gespräch und die Zeit, die Sie sich dafür genommen haben!

Zürich, 24. Juli 2023. Das Interview führten Florence Jaeger und Anna Marti.

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