Dr. Vera Beutler im Porträt
"Gleichberechtigung heisst nicht, dass wir alles so machen sollten, wie die Männer das schon immer gemacht haben."
Dr. Vera Beutler, Leiterin Info-Center Recht & Versicherung beim Touring Club Schweiz und Journalistin, berichtet über ihre Arbeit beim TCS, wichtige Eigenschaften einer Führungsperson und was verändert werden müsste, damit Beruf und Familie sich besser vereinbaren lassen.
Frau Beutler, Sie haben ein Studium in Rechtswissenschaften und in Journalismus an der Universität Freiburg abgeschlossen. Was reizte Sie an dieser Studienkombination?
Darauf gibt es eine einfache Antwort: Ich schreibe sehr, sehr gerne. Nur sah ich bei einem alleinigen Journalismus-Studium zwei Probleme: Das eine, ganz profan, dass ich meinen Lebensunterhalt verdienen musste und wollte. Das andere war die Frage: Wenn ich nach dem Studium nicht mehr über einen Bereich wusste, worüber sollte ich schreiben? Das journalistische Handwerk zu lernen war und ist spannend, reichte mir aber nicht. Jura bot sich aus verschiedenen Gründen an. Unter anderem wusste ich, dass für mich nichts in Frage kam, was mit Mathematik zu tun hat und Wirtschaft interessierte mich zu wenig. Da war ich schnell bei Jura. Jura gibt mir zudem die Basis ‒ das mag nun etwas pathetisch klingen ‒ um die Welt besser zu verstehen. Schliesslich war damals Jura nicht etwas, worin man sich schon früh stark spezialisieren musste. Ein Studium, nach dessen Abschluss ich gewusst hätte, was mich die nächsten 40 Jahre erwartet, wäre für mich ein Graus gewesen.
Nach dem Studium waren Sie zuerst bei der Bundeskanzlei im Vernehmlassungs- und Öffentlichkeitsrecht tätig und danach als Medienjuristin beim Bundesamt für Kommunikation. Welche Qualifikationen braucht man als Juristin in diesem Bereich?
Ich denke hier liegen zwei Fragen in einer: Die erste ist, was man für Qualifikationen braucht, um den Job überhaupt zu bekommen und die zweite, welche man benötigt, um im Job zu bleiben. Ich habe klar die Erfahrung gemacht, dass es gut ist, wenn man einen Zusatz hat, das heisst etwas anderes gemacht hat als «nur» die Universität abzuschliessen. Mir hat sicher geholfen, dass ich das Journalismus-Studium absolviert und zwei Jahre lang im Ausland studiert hatte. Das hebt einen beim Berufseinstieg von anderen ab. Für den Einstieg selbst braucht man ein gewisses Selbstvertrauen, aber auch die Erkenntnis, dass man noch nicht viel weiss nach dem Studium. Es ist gut, wenn man auch kommuniziert "ich kann und weiss einiges, anderes muss ich noch lernen" und dies in der Praxis auch so umsetzt. Ich habe mit einem Praktikum angefangen und bin dann übernommen worden. Ist der Einstieg mal geschafft, ist der Wechsel innerhalb der Bundesverwaltung meist einfach.
Heute stelle ich, wenn auch nicht mehr in der Bundesverwaltung, selbst Leute an. Auch mir gefällt es, wenn meine Mitarbeitenden keinen 08/15-Hintergrund haben: So steht ein Mitarbeiter neben dem Job bei uns regelmässig auf der Bühne, ein weiterer hat früher Spitzensport betrieben und andere sprechen mehrere Sprachen fliessend. All dies zeigt mir zum einen, dass sie vernetzt denken und handeln sowie dass sie etwas durchziehen können, wobei sich Letzteres auch darin zeigen kann, dass jemand nicht ständig den Job wechselt. Auch in der Bundesverwaltung braucht es Durchhaltewillen und eine gewisse Frustrationstoleranz, denn der Entscheidungsspielraum ist eingeschränkt ‒ schlussendlich spricht das Schweizer Volk mit. Zudem sind Einsatz und seriöses Arbeiten auch wichtig.
Sie haben sich auch in Ihrer Dissertation mit einem Schnittstellenthema zwischen Recht und Medien befasst. Wie ergänzen sich diese beiden Bereiche?
Die Motivation für meine Dissertation war sehr profan: Ich wollte etwas schreiben, bei dem mir niemand reinredet: Eine Dissertation geht nicht zu einer Person, einer/einem Vorgesetzten, und kommt anders zurück. Zudem war es von Vorteil, dass mein Doktorvater zwar kein Journalismus-Studium absolviert hatte, aber offen war für eine interdisziplinäre Arbeit.
Die Dissertation hatte ein Eigenleben entwickelt: Ich bin zuerst davon ausgegangen, dass Jura und Medien nichts gemein haben und wollte dies am Beispiel der Unschuldsvermutung und der Berichterstattung der Medien über Strafverfahren zeigen. Ich habe aber schnell gemerkt, dass meine These falsch war. Je länger ich recherchiert und geschrieben habe, desto mehr habe ich gemerkt: In beiden Bereichen geht es darum, mit guten Argumenten zu überzeugen und zu einer Lösung zu kommen. Dies ist in Gerichtsverfahren so, aber auch im Journalismus. Hier geht es zwar nicht um eine Lösung im Sinne einer Entscheidung, aber ein guter Artikel lebt von guten Argumenten, mit denen die Journalistin eine Sache erklären kann. Wenn «die» Medien also schreiben, dass es «den» Juristinnen und Juristen nur um Paragrafen ginge und letztere, dass «die» Medien sie einfach in Ruhe ihre Arbeit lassen machen sollen, vergeben wir uns viel: Wenn wir die chinesische Mauer zwischen Medien und Recht durchbrechen, können wir gegenseitig voneinander profitieren. Es gibt zwar Juristen, die sagen, es sei ihnen egal, ob Nicht-Juristen sie verstehen. Aber ein Urteil, das nicht verständlich ist, bringt nichts. Ich kam zum Schluss, dass Vorurteile abzubauen beiden Bereichen helfen würde. Ein Gericht sollte das Recht so vermitteln, dass es verständlich ist. So können auch die Medien es verstehen und allenfalls qualifiziert nachfragen. Dies kann sich nur positiv auf die Qualität der Rechtsprechung auswirken und wenn es eine gute Rechtsprechung gibt, dann steigt auch das Vertrauen der Menschen in die Justiz. So gesehen bilden die beiden Bereiche gar nicht einen solch starken Gegensatz.
Seit 2016 sind Sie Leiterin von lex4you, einer interaktiven Plattform des Touring Club Schweiz (TCS), die Konsumenten in drei verschiedenen Sprachen Antworten zu rechtlichen Fragen aus dem Alltag bietet. Was gefällt Ihnen an dieser Arbeit besonders?
Dieser Job hat sich für mich als "de Fünfer und sWeggli" herausgestellt. Es ist eine seltene Möglichkeit für mich beide Bereiche, in denen ich mich spezialisiert habe, zu nutzen. Als Juristin muss ich das Gesetz verstehen können. Gleichzeitig hilft es, dass ich Journalistin bin. Wenn man das Gesetz versteht, aber nicht so runterbrechen und erklären kann, dass andere, die keinen juristischen Hintergrund haben, es auch verstehen, dann bringt es nichts.
Als zweiter Punkt gefällt mir gut, dass Leute Fragen aus dem Leben beantwortet bekommen. Denn wir behandeln bei lex4you keine Fragen, die juristisch-dogmatisch interessant sind, sondern juristische Alltagsfragen. Als ich die Aufgabe übernahm, gab es die Plattform noch nicht und so konnte ich diese mitentwickeln und mitgestalten. Es war auch ein Risiko, weil ich nicht wusste, ob es funktioniert. Schliesslich machte ich sowas zum ersten Mal. Spannend und entscheidend war und ist für mich aber, dass ich etwas gestalten kann. Ausserdem habe ich das Glück, dass ich um mich herum ein fachlich und menschlich ganz tolles Team aufbauen konnte.
Als letzter Punkt und dies ist nicht nur eine persönliche Vorliebe: Was cool ist an diesem Job, ist die Arbeit in drei verschiedenen Sprachen. Man lernt viel über andere Kulturen, andere Herangehensweisen. Das ist manchmal eine Herausforderung, aber ich denke das Ergebnis wird dadurch besser. Ganz einfach gesagt: Wenn ich Texte auf Deutsch schreibe und jemand, der nicht Jurist ist, übersetzt, dann sehe ich, wo etwas zu ungenau formuliert war und ich den Text anpassen muss.
Vor Ihrer leitenden Tätigkeit beim TCS haben Sie beim Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung die Hochschuldienste geleitet. Welche Eigenschaften benötigt man in solchen Führungspositionen?
Welches die Eigenschaften sind, die man braucht, um eine gute Führungsperson zu sein, da müssten Sie jetzt wohl meine Mitarbeitenden fragen (lacht). Mir ist eines vor allem anderen wichtig: Ich muss am Morgen in den Spiegel schauen können. Ich will mir nichts vorspielen. Wichtig ist mir auch, dass ich empathisch bin ‒ schliesslich führe ich Menschen und nicht Maschinen. Langfristig ist zudem ganz wichtig, und das hört sich jetzt vielleicht etwas konservativ an: Anstand. Wer im Berufsleben ein falsches Spiel spielt, ist keine gute Führungsperson. Ein weiterer Punkt: Ich muss nicht immer die richtige Lösung haben, kann dann aber auch zugeben, dass ich etwas hätte besser machen können. Wir haben zum Glück diesen Anstand und eine entsprechende Vertrauenskultur bei uns. Meine Mitarbeiter wissen, dass sie intern alles kritisieren können und ich es dann nicht plötzlich gegen sie verwende. Diese Vertrauenskultur zeigt sich auch darin, dass bei mir das Team sehr stabil und loyal ist.
Der andere zentrale Punkt: Ich weiss, dass ich ersetzbar bin. Wenn ich zu jeder Tages- und Nachtzeit und in den Ferien erreichbar bin, bin ich keine gute Führungskraft. Denn: wenn ich gut organisiert bin, muss ich nicht immer erreichbar sein. Und wenn ich ab und an mal nicht erreichbar bin: Das Unternehmen wird sich weiterdrehen. Würde ich anders denken, wäre das ein Fall von Selbstüberschätzung. Auch keine gute Eigenschaft für eine Führungskraft.
Sie waren zudem zeitweise freie Journalistin und veröffentlichen immer wieder in Zeitschriften sowie auf Twitter und Blogs Beiträge zu Themen wie Vereinbarkeit, Diversity und Fachkräftemangel. Was treibt Sie in Ihrer journalistischen Tätigkeit an?
Ich schreibe einfach gerne und weiss, dass ich Leute damit erreichen kann. Irgendwann habe ich dann meine Nische gefunden. Als ich Mutter wurde, bin ich auf Probleme gestossen, von denen ich dachte, dass es sie nicht mehr gibt. In einem solchen Fall gibt es zwei Möglichkeiten: man frisst es in sich hinein oder man macht etwas dagegen. Für mich kam nur Letzteres in Frage. Dabei war und ist mir wichtig, dass ich mit Argumenten arbeite. Dies mache ich in meinem Blog, aber auch, wenn ich in den Social Media für etwas kämpfe.
Hatten Sie Vorbilder oder Mentorinnen bzw. Mentoren, die Sie auf Ihrem Weg begleitet oder gefördert haben?
Ich funktioniere nicht so wahnsinnig nach Vorbildern, vor allem nicht in Echtzeit. Im Nachhinein merke ich jeweils "ich möchte so sein wie soundso" oder "ich möchte nicht so sein wie soundso". So war es zum Beispiel bei der kürzlich verstorbenen ehemaligen Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz. Sie war eine unglaublich anständige, respektvolle Person. Nach meiner Erfahrung kamen solche in der Bundesverwaltung auf höchster Ebene damals nicht so häufig vor. Sie kannte alle Mitarbeiter mit Vornamen und gratulierte allen zum Geburtstag. Klar hatte sie wohl eine Assistentin, die sie daran erinnerte, aber trotzdem. Sie hatte ein sehr hohes menschliches und berufliches Niveau ‒ wenn ich es auf dieses schaffe, bin ich zufrieden.
Ein anderes Vorbild in diesem Sinne ist die ehemalige Direktorin des Eidgenössischen Hochschulinstituts für Berufsbildung Dalia Schipper. Sie gab mir damals die Chance in eine Kaderposition einzusteigen. Sie gab mir diese sehr bewusst, weil sie an meine Kompetenzen glaubte und obwohl – oder vielleicht weil – sie wusste, dass Familie für mich ein Thema war. Als ich dann schwanger war und ihr das mitgeteilt habe, hat sie nicht die Nase gerümpft, sondern sich schlicht gefreut und gefragt wie es mir geht. Solche Personen braucht es. Denn gerade bei Akademikerinnen ist in dem Alter, in dem man Berufserfahrung hat bzw. aufbaut, häufig auch parallel Familienplanung ein Thema.
Frau Beutler, Sie sind Mutter von zwei Kindern. Wie haben Sie die Betreuungsfrage für Ihre Familie gelöst?
Unterschiedlich. Für uns war immer wichtig, dass wir mehrere Optionen haben für den Fall, dass ein Kind krank wird oder die Betreuung ausfällt. Das haben wir bis heute so durchgezogen: Hätten wir beispielsweise früher ausschliesslich auf die Kita gesetzt, hätten wir immer, wenn ein Kind krank war, zuhause bleiben oder eine Notfallbetreuung organisieren müssen. Das war nicht nötig, weil meine Eltern regelmässig die Kids betreut haben, später zusätzlich eine wunderbare Kinderfrau. So waren die Tage, an denen mein Partner oder ich auf ein krankes Kind aufpassen mussten, vernachlässigbar. Und so müssen wir uns auch kaum "rechtfertigen" vor dem Arbeitgeber. Das ist sicher auch für einen selbst wichtig. Denn man muss sich bewusst sein, dass Kinder krank werden können. Allerdings zugegeben: Meine Kinder sind selten krank, was sicher ein Glück ist. Aber das kann sogar ich schlecht planen (lacht).
Meine Kinder gingen zudem immer gerne in die Kita; zuerst zwei, dann drei Tage in der Woche. Sie fanden dort gute Freunde. Auch besuchten sie diese sehr früh und "fremdelten" daher nicht. Einmal mussten wir die Kita wechseln, da waren die ersten drei Tage etwas schwieriger. Aber dies legte sich schnell. Natürlich gibt es auch andere Lösungen. Aktuell sind die beiden tageweise bei einer liebevollen Tagesfamilie und wollten auch mal die Tagesschule ausprobieren. Am wichtigsten war und ist immer, dass es den Kindern gut geht ‒ dann geht es auch uns Eltern gut.
Der berufliche Wiedereinstieg nach der Geburt eines Kindes gestaltet sich für Frauen oftmals schwierig. Teilweise erhalten sie weniger anspruchsvolle Aufgaben oder finden nur mit Mühe eine neue Arbeitsstelle. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?
Ich habe diese Erfahrungen zum Teil nicht gemacht und zum Teil schon. Als ich nach meinem ersten Kind wieder angefangen habe zu arbeiten, war es völlig unproblematisch. Von Beginn weg habe ich klar kommuniziert, dass ich verfügbar bin, wenn ich im Büro bin. Wenn ich das Büro hingegen verlasse, dann gehöre ich meinen Kindern und möchte mit ihnen zu Abend essen und dabei keine Telefonanrufe mehr erhalten. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass etwas nicht bis morgen warten kann, ist relativ klein. Klar, es gibt Ausnahmen. Im Grunde ist es Einstellungssache, ob Vorgesetzte und Team akzeptieren, dass die Mitarbeiterin auch Aufgaben ausserhalb des Berufs hat. Irgendwann jedoch kamen regelmässig Telefonate beim Abendessen. Dies half mir bei der Entscheidung, nach dem zweiten Kind die Stelle zu wechseln.
Dabei war es schon interessant zu sehen, wie schwer es ist, mit zwei kleinen Kindern eine Führungsposition zu finden. Ich musste eine Zeit lang, wenn auch nur kurz, nach einem passenden Job suchen. Ich habe zwar schnell Angebote bekommen, aber diese waren allesamt nicht für Führungspositionen. Ich weiss nicht, warum die dachten, dass ich mich plötzlich nicht mehr für eine Führungsposition interessiere (lacht). Wie so oft im Leben musste diese Phase aber sein, damit ich schliesslich meinen jetzigen Job fand. Hier besteht lediglich die Erwartung, dass ich mich gut organisiere. Und dass nicht immer ich springe, wenn etwas mit den Kindern ist, denn glücklicherweise haben meine Kinder auch einen verantwortungsbewussten Vater.
Als ich wieder aktiv wurde im Job, habe ich angefangen über das Thema Familie und Beruf zu schreiben. Die Gleichberechtigung ist ohnehin noch nirgends tatsächlich verwirklicht. Wir sind zwar in gewissen Punkten weitergekommen, aber insbesondere, wenn Kinder dazukommen, ist man plötzlich wieder Jahrzehnte zurückgeworfen. Zudem gibt es diese «Alibi-Frauen», die in Wirklichkeit wie traditionelle Männer sind. Es nützt nichts für die bessere Vereinbarkeit, wenn Frauen in Führungspositionen sind, die 24/7 erreichbar sind und meinen, dass ohne sie nichts geht. Gleichberechtigung heisst nicht, dass wir alles so machen sollten wie die Männer das schon immer gemacht haben ‒ das bringt niemandem etwas. Dass Mütter gleichberechtigt sind im Arbeitsmarkt, davon sind wir noch ziemlich weit entfernt. Dies sieht man auch an der pay gap: Bevor Frauen Kinder haben, ist der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern weniger gross als danach. Sobald Kinder da sind, geht die Schere auf und Väter verdienen mehr, Mütter hingegen weniger.
Während Ihrer bisherigen beruflichen Karriere haben Sie mehrheitlich in Teilzeit gearbeitet. Was sind Ihrer Erfahrung nach die Vorteile und Herausforderungen einer Teilzeit-Stelle?
Ein Vorteil ist sicherlich, dass ich immer noch ein anderes Leben hatte. Bei zwei Arbeitgebern habe ich jeweils nebenher an meiner Dissertation gearbeitet. Als dann die Kinder kamen, habe ich zunächst 60-70% und dann 80% gearbeitet. Das ist jedoch nicht so zu verstehen, dass 100% zu arbeiten nicht gut ist. Ich schätze aber an der Teilzeitstelle, dass ich mehr von meinen Kindern habe.
Es gibt übrigens Studien, die belegen, dass Töchter von berufstätigen Müttern später erfolgreicher im Beruf sind. Das ist nicht an einen bestimmten Prozentsatz gebunden, aber: Es gibt ebenso Studien, die zeigen, dass eine Arbeitnehmerin in 80% der Zeit die Arbeit von 100% erledigen kann, denn sie arbeitet mit diesem Pensum einfach effizienter. Nur Halbtage frei zu haben, zum Beispiel am Freitag etwas früher zu gehen, bringt dagegen meines Erachtens nicht viel.
Wenn ich einen freien Tag habe, habe ich frei. Das ist wichtig, damit 80% nicht zu 100% Arbeit bei 80% Gehalt werden. Wenn etwas ganz ausnahmsweise brennt, dann können mir meine Mitarbeitenden eine SMS schreiben. In wichtigen Phasen, beispielsweise beim Abschluss eines Projekts, checke ich ab und an meine E-Mails. Wenn nötig, dann antworte ich schnell ‒ insbesondere, wenn es um etwas geht, was ich viel schneller entscheiden kann als die anderen. Das ist eine Frage der Kommunikation. Was es auch braucht, ist Flexibilität. Zum Beispiel, dass ich auch mal eine Sitzung wahrnehme, die an dem Tag stattfindet, an dem ich eigentlich frei habe, die Sitzung sich aber nicht verschieben lässt, weil zu viele Personen involviert sind. Dann organisiere ich mich. Aber das kommt selten vor.
Sie waren zudem bei verschiedenen Arbeitgebern tätig. Gab es bei diesen Unterschiede bezüglich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie?
Es gibt formelle Unterschiede, die man nachschauen kann. Zum Beispiel der Mutter- oder Vaterschaftsurlaub ‒ da ist der öffentlich-rechtliche Sektor besser als die Privatwirtschaft. Für mich wichtig sind jedoch die Menschen. Diese können progressiv sein im öffentlichen Sektor wie im Privatsektor. Wenn man aber umgekehrt die falschen Leute vor sich hat, auch wenn das Formelle stimmt, bringt es nichts. Nehmen wir die Bundesverwaltung: Hier gibt es nach der Geburt eines Kindes einen theoretischen rechtlichen Anspruch auf eine Pensumsreduktion in der gleichen Funktion. Aber auch dort gibt es in der Praxis Geschichten von Frauen, deren Job einfach reorganisiert wurde und die damit nach dem Mutterschaftsurlaub doch ohne adäquaten Job dastanden. Mein jetziger Arbeitgeber in der Privatwirtschaft hat umgekehrt bisher immer sinnvollere Lösungen gefunden, weil er wusste: Dies ist eine gute Arbeitnehmerin und die wollen wir behalten. Das funktioniert bei uns wirklich gut. Als Beispiel: Ich kam damals und wollte Teilzeit arbeiten. Das kam erst mässig gut an (lacht), wobei es auch da schon andere Frauen in Führungspositionen mit Teilzeit-Stellen gab. Lustigerweise entwickelte es sich so, dass nun mein ganzes Team in Teilzeit arbeitet, und später wurde ich sogar angewiesen, beim Rekrutieren auch Männer in Teilzeit anzustellen. Und siehe da, es klappt. Es ist natürlich Organisationsaufwand, aber es funktioniert.
Was würden Sie sagen sind die drei wichtigsten Punkte, die verändert werden müssten, damit Mütter und Väter Beruf und Familie besser vereinbaren können?
Der erste wichtige Punkt ist die Elternzeit. Es gibt hier ganz viele Argumente dafür. Herauslaufen tut es auf Folgendes: Für die Arbeitgeberin muss ein potentieller Vater genau das gleiche «Risiko» bedeuten wie eine potentielle Mutter. Ein Vaterschaftsurlaub oder Mutterschaftsurlaub kann vorkommen und das Unternehmen muss sich organisieren können. Mit der Finanzierung über die Erwerbsersatzordnung fällt auch das Argument weg, dass ein KMU diese Abwesenheiten finanziell nicht stemmen kann.
Der zweite Punkt ist eine Infrastruktur für Kinder, die es einer Familie erlaubt, selbst zu entscheiden, wer wie und wie viel erwerbstätig sein will. Das ist für mich ganz wichtig. Es kommt dann regelmässig der Vorschlag von politischer Seite, einen staatlichen Kindergarten mit Betreuung ab zwei Jahren einzuführen. Aber ich denke, Eltern sollten grundsätzlich frei entscheiden können, ob sie selbst, die Kita oder eine Kinderfrau etc. die Betreuung übernimmt. Heute haben wir diese freie Wahl nicht. Ich kenne Frauen, die ihren Job aufgeben mussten, weil die Kosten der Kita höher waren als das Gehalt ihres Jobs. Viele sagen, Kinder zu haben sei Privatsache; aber wenn die Infrastruktur nicht erschwinglich ist, hat die betreffende Person keine Wahl und muss zuhause bleiben. Schon nur so gesehen wird Kinder haben zur öffentlichen Sache.
Der dritte Punkt ist weniger eine politische Forderung, sondern etwas, was sich jede und jeder bewusst sein muss: Familie zu haben ist eine Entscheidung, die man für sich auf seine Weise trifft. Genauso ist es mit der Vereinbarkeit: Wir sollten die Entwürfe anderer akzeptieren, auch wenn man diese für sich selbst ablehnt. Ich habe mich früher auch gefragt, warum gewisse Frauen nach langer Ausbildung zuhause bei den Kindern bleiben. Aber wenn sie damit zufrieden sind, ist das ok. Wir dürfen nicht denken, dass die eigene Lösung auch immer die richtige Lösung für andere ist. Gegen diese Intoleranz versuche ich auch schreibend vorzugehen. Es gibt da zwei Lager: Die einen, die sagen "so ist es richtig und etwas anderes ist falsch" und damit fast schon stolz sind auf die eigene Intoleranz. Und dann gibt es die, die sagen "ich bin tolerant und jeder soll es so machen, wie er will (aber eigentlich ist meine Wahl doch am besten)". Diese sind dann versteckt intolerant und auch nicht wirklich besser.
Im Oktober 2019 hat der Nationalrat einem zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub zugestimmt. Denken Sie, dass dieser zu einer gleichberechtigteren Betreuung von Kindern führen kann?
Wenn dieser als Vorstufe zur Elternzeit gedacht ist, dann ist er gut. Es soll nicht so sein, dass der Papa zwei Wochen lang ein wenig wickelt und dann ist gut ‒ das ist für mich nicht die Idee. Die Diskussion um das mittlerweile ergriffene Referendum ist leider nicht von sachlichen Argumenten geprägt, sondern von Intoleranz, Geringschätzung der Familienarbeit, Unwissen betreffend die Finanzierung und mangelnder Generationensolidarität. Aber ich bin hier zuversichtlich, dass wir diesen Abstimmungskampf gewinnen werden.
Was würden Sie jungen Juristinnen raten, die das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie proaktiv angehen wollen? Gibt es Aspekte, die man frühzeitig planen sollte?
Ja sicherlich. Ich denke die Organisation der Kinderbetreuung sollte einen Plan B und C miteinbeziehen. Im Lockdown haben sich unsere breit abgestützten Lösungen als goldrichtig erwiesen: Die Kinder konnten nach wie vor in die Tagesfamilie gehen. Dadurch hatten sie noch einen sozialen Kontakt ausserhalb der eigenen Familie und eine gewisse Konstanz in dieser doch sehr herausfordernden Zeit. Wir als Eltern konnten HomeOffice und HomeSchooling so viel besser kombinieren.*
Meiner Erfahrung nach ist es sehr wichtig, dass ich gegenüber dem Team und Vorgesetzten klar kommuniziere, wie ich mich organisiere. Man darf nicht in eine Rechtfertigungsposition kommen. Ich rechtfertige mich nicht für meine Kinder. Das braucht etwas Selbstbewusstsein, aber man sollte nicht in das Fahrwasser gelangen, dass man seine Kinder verschweigt oder sich gar für sie entschuldigt. Kinder zu haben ist nämlich auch etwas, was man als Qualität einbringt. Ich beispielsweise wurde viel empathischer und besser organisiert.
Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte und wieso?
Heidi Gysi. Sie ist Finnin, Mutter von zwei Kindern und eine sehr erfolgreiche Juristin. Sie hat mich inspiriert, weil sie diese skandinavische Überzeugung mitbrachte, dass es gar keine Frage ist, ob Beruf und Familie vereinbar sind. Zudem bemerkenswert finde ich, dass sie in Finnland Jura studierte und sich in der Schweiz, in die sie wegen der Liebe gekommen ist, beruflich erfolgreich etabliert hat.
Ausserdem die Direktorin des Eidgenössischen Instituts für Geistiges Eigentum, Catherine Chammartin. Sie ist gerade zum zweiten Mal Mutter geworden in diesem Direktorinnen-Posten, der vom Bundesrat gewählt wird und den sie als erste Frau und Mutter bekleidet.
Vielen Dank für das Gespräch und die Zeit, die Sie sich dafür genommen haben!
Bern/Zürich, 9. Januar 2020. Das Interview führte Nadine Pfiffner.
* Anm. d. Red.: Nachträgliche Ergänzung.
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